Ruder-Club Süderelbe » Berichte » 15_06_21 WorldCup Varese
World Cup Varese
Was ist die Steigerung von EM (Europameisterschaft)? – Den meisten ist sicher sofort „WM“ im Kopf. Das mag für die meisten Sportarten richtig sein, der Rudersport hat jedoch wie bei so vielem auch hier eine Besonderheit zu bieten: Zwischen EM und WM gibt es noch die sogenannten WorldCups. Das sind in der Regel drei Regatten, die im Frühjahr vor der WM ausgetragen werden und von vielen Nationen aus aller Welt zur Standortbestimmung genutzt werden. Neben den Medaillen für die ersten drei Plätze werden hier in den einzelnen Bootsklassen zusätzlich Punkte verteilt. Wer Mitte Juli bei der letzten WorldCup-Regatta die meisten Punkte erreicht hat, darf sich WorldCup-Champion (oder WeltCup-Gewinner) nennen.
Im Gegensatz zur EM oder WM dürfen hier die Nationen in jedem Rennen mehr als ein Boot melden. Diese Möglichkeit wird gerade in den Einern und Zweiern gerne genutzt, um diejenige Mannschaft für die Weltmeisterschaft auszuwählen, die die besten Chancen hat.
Am vergangenen Wochenende fand im italienischen Varese die zweite dieser WorldCup-Regatten statt. Mittendrin: Judith, die aufgrund ihren hervorragenden Vorleistungen erneut die deutschen Farben im Leichtgewichts-Einer vertreten durfte. An Stelle der starken Konkurrentinnen aus Schweden und Großbritannien, die diesmal im Doppelzweier antraten, erwarteten sie diesmal schnelle Gegnerinnen aus Übersee. Die Brasilianerin und eine der beiden Neuseeländerinnen sollten sich als die härtesten Nüsse entpuppen. Doch der Reihe nach:
Am Freitag ging es zunächst darum, zumindest einen dritten Platz im Vorlauf zu erreichen, um direkt ins Halbfinale einzuziehen. Im Turniermodus gilt jedoch die Faustformel: Je besser die Platzierung im Vorlauf, desto einfacher wird das Halbfinale. Daher entschloss sich Judith, gleich vom Start weg den Sack zuzumachen und sich mit einem Start-Ziel-Sieg für den nächsten Lauf zu empfehlen. "Ich war gar nicht so fertig wie nach dem EM-Vorlauf", lautete das Statement nach dem Rennen.
Das Halbfinale am nächsten Tag sollte eine Überraschung beinhalten. Wieder war mindestens ein dritter Platz nötig, um am nächsten Tag im Finale A antreten zu können. An der ersten 500m-Marke noch auf Platz drei liegend, arbeitete sich Judith mit ihrem hohen Streckentempo an einer der beiden Neuseeländerinnen vorbei, die ebenfalls aus Neuseeland stammende Halbfinal-Siegerin war allerdings bereits uneinholbar entschwunden. Letztere unterbot in diesem Rennen die bisherige Weltbestzeit für Leichtgewichts-Frauen-Einer um satte 3,7 Sekunden. Der Rekord, im Jahre 1994 aufgestellt, hatte für über 21 Jahre Bestand und zeigt, auf welchem Niveau sich die Teilnehmerinnen befanden.
Der Zeitvergleich zum anderen Halbfinale machte deutlich, dass uns die ebenfalls fürs Finalrennen qualifizierte Ruderin aus Dänemark Schwierigkeiten bereiten würde. Bereits im Vorlauf, aber auch in ihrem Halbfinale erreichte sie ähnlich schnelle Zeiten wie Judith, darüber hinaus war sie im ersten Streckenabschnitt erheblich schneller unterwegs. Für den Final-Lauf musste ich mir also noch etwas ausdenken. Die Bahnverteilung ergab eine für uns ungünstige Situation: Diejenigen, auf die Judith ein Auge haben musste, fuhren drei bis vier Bahnen weiter außen, und waren somit etwas außer Sichtweite. Keine leichte Aufgabe. Dies ließ sich nur lösen, wenn Judith auf den ersten 500m etwas mehr auf Risiko fährt, so dass die Dänin sich nicht zu weit absetzen kann. Den Rest erledigt Judiths hohes Streckentempo, sofern sie am Anfang nicht zuviel Energie verbraucht hat. Soviel zur Theorie…
Die Praxis ist natürlich nicht so einfach. Zum Finalrennen erwartete Judith spiegelglattes Wasser und so gut wie kein Wind. Beste Voraussetzungen also, leider auch für alle anderen.
An der 500m-Marke war die Brasilianerin bereits unglaubliche 6 Sekunden vor Judith, Neuseeland irgendwo dazwischen. Die Plätze 1 und 2 schienen vergeben, jedoch was passierte dahinter? Dänemark 1,3 Sekunden voraus und damit gerade noch dicht genug dran, damit Judith im weiteren Verlauf noch an ihr vorbei fahren könnte.
1000m-Markierung: Offenbar hatte der erste Zwischenspurt gesessen, Dänemark bereits 0,3 Sekunden hinter Judith. Das ist zwar fast gar nichts, aber immerhin waren wir bereits davor.
Es folgten weitere zwei Minuten bangen Wartens, bis die Informationen zur 1500m-Marke über die Bildschirme lief: Judith inzwischen bereits 3 Sekunden vor Dänemark, die inzwischen sogar Gefahr lief, auf Platz 5 durchgereicht zu werden. Außerdem erstaunlich: Brasilien, zwischenzeitlich mit über 7 Sekunden Vorsprung gefühlt Lichtjahre voraus, lag nur noch 4 Sekunden vor Judith.
Im Zieleinlauf wurde es dann doch nochmal spannend, denn die Brasilianerin schien sich ernsthaft übernommen zu haben und hatte nur noch etwa eine Länge Vorsprung, als sie ihren Bugball als zweite über die Ziellinie rettete. Dritter Platz für Judith, die damit ihre zweite internationale Medaille in diesem Jahr errang!
Wieder an Land, gab es danach nur noch die üblichen Handgriffe zu erledigen, um Boot und Material heil nach Hause zu bekommen. „Geh mal nicht so schnell“, bekam ich beim Boot-Tragen zu hören. „Die Beine sind noch nicht wieder soweit…“
Ich denke, morgen macht sie wohl besser mal trainingsfrei.
Markus Last